Mein Vater floh 1960/61 bei Thüringen aus dem Osten, als dort nur ein Zaun stand und die innerdeutsche Grenze sonst bewacht wurde. Es gab zwar noch keine 'Mauer' oder die üble Grenzanlage, aber geschossen wurde schon. Das muss er zwei Monate vor seinem Abitur gemacht haben und so verblieb er den Rest seines Lebens ohne jeden Berufsausweis. Er wurde Angestellter in einem Vermessungsbüro, setzte im Sommer Marksteine, vermass das ganze Napfgebiet (Emmental, Schweiz) und zeichnete im Winter präzise Pläne von Hand. Er konnte rechnen, denken, liebte es, draussen zu arbeiten. Und er zog jeden in wenigen Sätzen Schachmatt, ob im Spiel, in meiner Erziehung oder der Frage, nach dem Sein und dem ganzen Unsinn. Das Einzige, was ihn vereinnahmte, war seine Vorstellung von einer Freiheit, die ihn bis in seinen gewählten Tod antrieb, ordentlich, bewusst, aufrecht - und in weissem Hemd und heller Hose. Er stand wie eine Eins, eisblau sein Blick, wachsam sein Schweigen. Er konnte mich fertig machen. Dann lachte er mit uns am liebsten, wenn ihm was schief ging.
Im Buch 'Fokus Self Leadership', (Wallner & Völkl) würde man ihn heute als 'naszierend' beschreiben, eine ideale Mischung von Gelassenheit und Wachheit wie Achtsamkeit. Falls Ihnen sowas auf den Wecker geht, dann halt bildlich: Er bewegte sich langsam, bedacht, sorgfältig, leise, einfühlend. Er war mein Yul Brinner, mein Lee Van Cleef, mein Clint Eastwood, mein Charles Bronson, mein Steve McQueen. Er war niemals Eli Wallach.
Sie können sich auch fragen, wie oft Sie schon den Atlantik mit einem Segelboot gequert haben, wie oft sie mit einer Segelyacht in der Antarktis überschlugen? Wie oft haben Sie es darauf ankommen lassen? Er hat. Und ganz ohne jeden Ausweis. Keinen Segelschein, keinen Kletterschein, keinen Navigationsschein, kein Funkschein. Ich hab hier seine Bücher zur Antarktis, zum Schwerwetter Segeln, zum Überleben.
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Hans Willi Klaus 'Chlöisu' Jakob |
Nun ist er seit ein paar Jahren tot und ich bin unterdessen bald 55. Ich glaube, er mochte mich die letzten 15 Jahre, weil er es irgendwie kommen sah, dass ich scheiterte. Das fand er besser, als all die Fürze, von denen ich hungrig erzählte. Ich aber wurde über die Jahre Koch, Diätkoch, Marketingplaner, Marketingleiter, Gesprächsberater und Coach. So viel zu meinen Ausweisen. Ich machte den Schnupperlehrling, den Lehrling, den Jungkoch, den Koch, den Diätkoch, den Junior Product Manager, den Product Manager, den Exportleiter, den Area Sales Manager Middle East und wurde ad interim CEO in Kopenhagen sowie Chief of the Board. Dann Selbständigkeit, Scheitern, Sterben. Danach aufstehen und Krone richten. Das dauerte nun 40 Jahre.
Ich bin re'etabliert. Alles seit einigen Jahren wieder da. Und ich sollte noch 10 - 20 Jahre arbeiten. Wer sein? oder was darstellen? Lehrcoaches fragen blind, ob ich nicht in die Ausbildung kommen möchte. Andere absolvieren Nachdiplome. Selber beschäftigen mich Fragen, was gebe ich für eine Antwort, wenn ich gefragt werde, wer ich sei oder was ich mache. Mein Vater antwortete er auf diese Frage mit, 'Mein Vater war der Erfinder des Würfelzuckers'. Das wars.
Last but not least lassen neueste Erkenntnisse das Verstehen der eigenen Rolle von der Fremdverantwortung zur Selbstverantwortung wechseln, von der Abhängigkeit zur eigenen Konstruktion. Vom Top-Down aus erzieherischem Zuckerbrot und Peitsche zum Ich ok und Du ok, von der Du-Botschaft zur Ich-Botschaft und zu den Fragen nach meinen Gefühlen und meinen Bedürfnissen. Und wenn dem so ist, was ich für mich übernommen habe, dann bedeutet das, dass kein Wisch mich noch ausmachen kann, egal wie 'Top' der auch sein mag. Ich bin im Reigen meines Zenits, auf dem Lebenszyklus in der Reife-Phase, nicht mehr durch einen Beleg zu anerkennen.
Das Einzige, was mich - auch mit Blick auf Diffusionen, Digitalisierung, Umwälzungen - auszumachen vermag, ist meine täglich
Haltung. Der gelassene, achtsame aufrechte Gang. Ich bin bestenfalls mein eigener David Carradine - um nochmals zu den Bildern zurück ... Ich bin dann Pfadfinder, Kollege, Kapitän, Mitmacher, Denker, Brückenbauer, Troubleshooter, Zampano, Schreiber, Massstab, Querulant und Fragensteller. Ich bin Experte, Löli, Liebhaber und Leidenschaftler, wie Hundehalter. Ich kann Zelte bauen, Feuer machen, Schuhe trocknen, Wunden verbinden. Ich kann schauspielern und zuhören. Andere lassen .. gerade noch, aber da bin ich mir noch nicht sicher. Und ich weiss, wie man untergeht oder besser nicht. Wach wie ich bin, frage ich mich seit einiger Zeit, wie und womit ich wieder Koch würde, wenn viele nicht mehr zur Arbeit fahren.
Damit stelle ich mich nächstens. Die Haltung.
Die bewusste Haltung macht jemanden. Da kann auch einer ohne Zettel kommen. Und bestimmt, ich möchte einen Arzt mit Zettel, aber lieber einer mit einer Arzt-Haltung als einen ohne. Einen CEO mit CEO-Haltung als einen ohne. Einen Coach mit einer humanistischen Haltung als einen ohne. Einen Coach, der die Finger davon lässt, als einen, der schon mit seinem Ausweis fingert. Lieber jemanden, der das Format hat zu sagen: "Ach, lass mal, wir sind da und schauen recht."
In seiner Ausweislosigkeit steckt eine Menge, wo nicht dran ran gelassen worden zu sein. Das hat seine Fähigkeit und Kompetenz, ohne den Zugang zu erhalten jemand zu sein, voll genährt. Man konnte Vater nichts vormachen. Und staunter er, staunte er wirklich, da war er dann gerührt. Aber Eiern - nö.
Langsam begreife ich meinen Vater: Fast alles was man sein möchte, ist keine Frage der Funktion, des Titels oder Diploms - es ist eine Frage der Haltung.
Jona Jakob - 2017