27.12.2019

2019 - Das Jahr, in dem ich Urs Dickerhof begegnete

Man muss wissen, Irms und Urs Dickerhof, mit ihren Kindern Mischa und Anja, haben uns, Jens und mich, damals über Wochen bei sich gehabt, ob in Bern-Galgenfeld oder im Mas du Tilleuil, dem aufzubauenden Haus in Südfrankreich, in Boisset et Gaujac. Ich kann nicht sagen, wie oft und wie lange ich auf diese Weise mit Dickerhofs unterwegs war, wie oft wir mit 2CVs in den Midi fuhren. Was ich sagen kann: Ich kenne Uzés, Anduze, den Pont du Gard, die Cevennen und Saintes-Marie-de-la-Mer aus den 60ern. Dickerhofs verlor ich mit ca. 24 Jahren aus den Augen, als ich nach Domdidier, nach Fribourg und Zürich verzog. Das ist nun mehr als 30 Jahre her.

V.l.n.r.: Meine Mutter Hanne, Urs Dickerhof, Anja, mein Vater Klaus im Mas-du-Tilleuil.

Vor etwa einem Jahr suchte ich den Kontakt zu Urs, ich wollte erfahren, wie sie sich damals kennen lernten, die Dickerhofs und meine Eltern, also Klaus und Hanne. In Biel sagte er schlicht: "Das waren Irms und Hanne, die beiden deutschen Frauen, die sich mochten." - So kam alles zusammen. "Diese Woche ist Irms gestorben. Sie war 80. Es ist gut so. Besser."

In der KW51 von 2019 fuhr ich für ein Mittagessen und einen kleinen Ausstellungsbesuch nach Biel und Nidau. Wenige Wochen zuvor war ich an selber Stelle Mischa begegnet, hatte zwei seiner Fotografien erstanden, die noch nicht hängen und dass wir uns neu fanden, ist Facebook zu verdanken. Nun stellte Urs aus.

Es war eine jener trockenen und doch herzhaften Begegnungen, wie sie auch Clöisu ertragen hätte. Mir schien, es lag daran, dass keine der Frauen dabei war. Nur wir, anwesende und auch fehlenden Männer. Von Jens wissen wir alle nichts. Und Chlöisu hatte sich entschieden. Wir sassen also in Biel zu Bratwurst und Zwiebelsauce und sprachen. Es war alles ganz ruhig.

Der Tod von I. war für mich eine Erleichterung, als würde man eine unberechenbare Figur vom Schachbrett nehmen. Neuer Frieden, der mir mehr ausmachte, als man es mir vielleicht je anmerken konnte. Ich fuhr in einer mich bewegenden Zufriedenheit nach Hause.


Um so reifer die Begegnung mit den zwei verbliebenen - mit Mischa und Urs.

-

Mein Facebook-Posting vom 24.12.2019

Am Samstag in Biel / Nidau mit Mischa & Urs Dickerhof. Ein Moment wie ein Weihnachtsgeschenk. Mehr als 30 Jahre seit unserer letzten Begegnung. Viel direkte Sprache, die gleich rein in die Sachen geht. Wunsch nach mehr Zeit oder Raum. Ein Gästezimmer an der Quellgasse. Ein Café, 200 Meter weiter. Er sagte: "Darf ich vorstellen, das ist Jona, er ist einer meiner Söhne." Auf dem Weg zurück nach Zürich feixt in mir die Vorstellung.

Jona Jakob und Urs Dickerhof, Dez 2019, Nidau.
-

Mein Facebook-Posting vom 10.11.2019

Ich habe gestern einen Menschen besucht. Wir kennen uns seit jüngsten Kindeszeiten. Nun stehen wir beide eher am Ende unserer Leben. Er atmet sehr knapp. Ich glaube, bei unserem letzten Gespräch hat er sich Künstler genannt. Ich stehe in einer Wohnung voller seltener Güter, höchst diszipliniert aufgeräumt und geordnet. Ich hatte ein Gefühl von Schatzkiste, in der es einem behaglich wohl sein kann. Es gibt schwarzen Kaffee aus der Bialetti.

Ich war noch keine fünft Minuten da, Punk klang laut aber sauber im Raum, wir mussten etwas laut reden, um einander zu verstehen. Ich dann: "Das ist DEVO!?? Oder?" Er grinst. Später im Gespräch waren wir bei Jahren, Musik, bei Blondie und PIL. Viel von dem, was er alles wusste, kannte ich nicht. Aber wir verstanden uns.

Ich hatte schon noch an ein Selfie von uns gedacht, ich hätte auch gerne die sagenhafte Loge aufgenommen. Doch so, wie ich diesen Menschen seit über 50 Jahren wahrnehme, ist es vermutlich schon ein kleines No-Go, mein iPhone zum Gespräch mitzubringen. Ein Bild nahm ich mir dann doch noch.

Irgendwie mag es im ersten Moment komisch wirken, wir haben, so meine ich das ausdrücken zu wollen, keine Freundschaft. Vermutlich stirbt jeder für sich alleine. Das war immer schon so. Was uns verbindet sind viel elterlicher Kram, viel Zeit in Südfrankreich damals, 30 Jahre kein Wiedersehen und dann das Wiedersehen vor wenigen Wochen. Wir wirken unbeholfen - und mögen es dabei belassen. Was bleibt ist gewonnene Gelassenheit. Von meiner Seite ist da auch viel Respekt.

Dass wir von unserem Leben gesprochen hätten, nicht eine Silbe. Von Plattenspielern, Verstärkern, Klangqualität, ja, aber nicht von unseren Eltern. Für mich hat das Houellebecq mit seinen 'Elementarteilchen' getan. Und vielleicht, aus einer sehr vagen Sicht, könnte ich schreiben, er sei jener Halbbruder, nie wirklich geliebt, der die Geschichte säumt.

Dass wirklich Tolle an dem Menschen, den ich gestern besuchte, ist im Gespräch mit Ihm nie und zu nix zu etwas gefragt zu werden. Er fragte nach meiner Mutter oder so, aber gestern nix. Zu mir war keine Frage. Normalerweise meide ich heutzutage solche Gespräche. Aber bei ihm weiss ich: Es interessiert ihn nicht. Gar nicht. Ist nicht sein Ding, noch seine Welt. Wollte er nie, wozu dann fragen? Und dann gibt es da schon eine Möglichkeit, voller Glück und Stolz mit einem im Gespräch zu sein, für den das, was du selber lebst, nichts zählt. Da ist er, der Künstler. Ich mag das gerade.

Einst zurück auf der A1 nach Zürich, in irgend einem Diner, konnte ich fühlen, dass er mit dem, was mir selber nicht gross zusagte, so viel echter und näher am Leben geblieben war, als all das Gekrimse von parkenden Autos, Fellkragenjacken, Labelhandtaschen und blaisierten Masken, die, um sich die Gabel in den Mund zu schieben, mit dem Gesicht zum Teller gingen. Dem ganzen nur konsumierten Billigscheiss gegenüber ist mir der Mensch, den ich besuchte, Kosmos von ganz viel, was ich noch als Erinnerung 'echt' wahrnehmen kann. Er war damals mein Anfang und ist mir das - auch gestern - geblieben. Das Spätere war stets nur die Kopie der Kopie. Irgendwie bin ich heilfroh. Danke für das Gespräch. Danke für den Kaffee.

Jona Jakob (c) 2019


Bild: JJ mit iPhone, 2019